§ 4. Die Zehnte Kunstform

Jene Kunstform, welche der Form eines Allgemeinen entspricht, will ich die Zehnte Kunstform nennen. Mache ich von diesem Begriff Gebrauch, so geschieht dies nicht in der Absicht, Behauptungen darüber aufzustellen, ob es eine bestimmte Anzahl Kunstformen gebe und welche darunter zu rechnen seien. Vielmehr soll jenem sonderbaren Gedanken Ausdruck verliehen werden, wonach es eine Kunstform gibt, die sämtliche anderen Kunstformen zu beherbergen vermag, dergestalt, dass jede innerhalb jener erscheinen kann. In der Numerologie heißt es, die 10 sei diejenige Zahl, die sämtliche anderen Zahlen enthalte, deren Grundlage bilde und die Gesamtheit aller Möglichkeiten repräsentiere. Auf diese Vorstellung einer höchsten Allgemeinheit, welche die Formbedingungen sämtlicher Kunstformen unter sich fasst, spiele ich mit dem Begriff einer Zehnten Kunstform an. Die Frage, mit der wir uns befassen, könnte somit auch lauten, ob sich so etwas wie eine Zehnte Kunstform denken ließe?

§ 5. Die allgemeine Form des Lebens als diejenige Form eines Allgemeinen, in welcher die Zehnte Kunstform ihre Entsprechung findet

Wonach kann sich eine Entsprechung richten, wenn sie sich nach der Form eines Allgemeinen richten soll? Die Antwort, die ich auf diese Frage geben möchte, lautet: die allgemeine Form des Lebens. Mit diesem Begriff bezeichne ich die formalen Eigenschaften des Lebens als ein Verhältnis, das zwischen Geist und Welt als dessen erste und letzte Bedingungen aufgespannt wird. Zu leben bedeutet, dass man dieses Verhältnisses teilhaftig ist, und zwar als einer Vermittlung zwischen Geist und Welt, die ihrem Wesen nach Vollzug ist.

§ 6. Die allgemeine und besondere Form des Lebens

Der Vorrang des Lebens vor der Kunst. Leben wir, so sind wir eines Vermittlungsvollzugs zwischen Geist und Welt teilhaftig. Dies bedeutet, dass alles, was wir tun, empfinden und denken, eine Form des Lebens ist. Eine ausgezeichnete Form des Lebens ist die Kunst. Sie kann, wie jede andere Form des Lebens auch, dem Allgemeinen oder Besonderen zustreben und wie jede andere Form des Lebens auch vermag sie niemals an die Stelle des Lebens selbst zu treten, dessen bloße Konkretion sie ist.

§ 7. Das Wirkliche als erste Eigenschaft der Welt

Der Mensch hatte sich die Natur schon immer dadurch begreiflich zu machen versucht, dass er sie in Artefakten nachahmte. Die Kunstwerke der Malerei hatten jahrhundertelang als Maßstab dafür gegolten, wie man sich die Welt vorzustellen habe, weshalb zur Vorstellung der Welt zunächst dasjenige gehörte, was sich zeigen konnte: Objekte und deren Eigenschaften. Es gibt jedoch etwas, das noch vor dem, was sich zeigt, zu liegen kommt, etwas, das so grundlegenden Charakters ist, dass man sich seiner kaum mehr bewusst ist. Ich meine damit den Umstand, dass alles im Gange ist. Die deutsche Sprache hat der sonderbaren Natur dieser Erscheinungen in dem Wort Wirklichkeit Rechnung getragen, worin zugleich der Rang eines solchen Seienden deutlich wird: Dass alles wirkt und wirken lässt, ist die erste Eigenschaft der Welt.

§ 8. Die Erzeugung des Wirklichen vermöge des Algorithmus

Was den Computer auszeichnet, ist sein Vermögen, Artefakte zu erzeugen, welche über diese Eigenschaft, die Eigenschaft des Wirklichen verfügen. Das Element solcher Artefakte ist der Algorithmus, von welchem man sagen könnte, er habe einiges mit Naturgesetzen als einer naturwissenschaftlichen Form der Beschreibung jenes Wirklichen gemein. Wovon waren die Menschen fasziniert, als sie zum ersten Mal einer solchen Art von Artefakt begegneten? Diese Frage ist deshalb von Bedeutung, weil sie begreiflich machen kann, worin das Besondere einer solchen Art von Artefakt besteht. Ich glaube, es war jenes Wirkliche, das zum ersten Mal in einem Artefakt zu Tage trat: die Anmutung eines Systems, das durch das Wirkliche, das ihm zugrunde lag, einen eigenen Seinsstatus und eine eigene Kraft der Suggestion besaß. Vermöge des Algorithmus war es zum ersten Mal gelungen, Wirklichkeit zu erzeugen und damit einen grundlegenden Wesenszug der Welt in ein Artefakt zu überführen. Man könnte sogar sagen, dass die in Artefakten wiedererzeugte Natur erst mit diesem Schritt zu sich selbst gekommen war als die Einheit eines Sinnlichen und Wirklichen.