Manche Katastrophen erweisen sich im Nachhinein als Glücksfälle, weil sie einen zur Besinnung bringen und eine wichtige neue Entwicklung anstoßen.
Ich hatte mich Anfang Sommer 2023 am Rücken verletzt und musste eine mehrmonatige Auszeit von meinem gewohnten Leben nehmen. Schmerzen beherrschten meinen Alltag. Das Stehen bereitete mir Schwierigkeiten und an Sitzen war nicht zu denken, sodass mein Tag hauptsächlich aus Liegen und kurzen Spaziergängen bestand. Arbeiten und Schreiben, Virtual Reality und Kinofilme, gesellschaftliche Ereignisse, lange Spaziergänge, Ausflüge und Sport: all dies war nicht mehr möglich. Alltägliche Verrichtungen wie Rasieren, Duschen, Einkaufen und Kochen musste ich über den Tag hinweg verteilen, weil ich nicht lange am Stück stehen konnte. Die einzigen schmerzfreien Formen der Zerstreuung waren Lesen und Musikhören.
Dass es überhaupt zu dem Unfall kam, lag daran, dass ich Signale meines Körpers ignorierte. Jetzt stand ich im Dienste meines Körpers, statt umgekehrt, horchte auf jeden seiner Wünsche und gehorchte in der Hoffnung auf schnellstmögliche Genesung. Aus Rücksicht auf meine Gesundheit und weil ich die Heilung nicht hinauszögern wollte, sah ich vom gesellschaftlichen Leben ab, das, wie mir bewusst wurde, meist mit längerem Stehen oder Sitzen verbunden ist. Außerdem war es schwer, anderen Menschen die Einschränkungen, unter denen man lebte, verständlich zu machen.
Die mehrmonatige Heilungsphase ging zum einen mit sozialer Isolation, zum anderen mit viel Freizeit einher. Weil ich meiner Arbeit und den meisten anderen Aktivitäten, die mich normalerweise von morgens bis spätabends auf Trab hielten, nicht oder nur sehr eingeschränkt nachgehen konnte, hatte ich plötzlich Zeit für andere Dinge, die ich viele Jahre vernachlässigt hatte und da es fast keine Möglichkeit der Zerstreuung für mich gab, war ich auf mich selbst zurückgeworfen. Ich hatte viel Muße und nutzte sie fürs Nachdenken, Lesen und die Gesellschaft mit mir selbst.
Gewohnt, meinem Tag und Körper stets das Maximum abzufordern, war ich zur strengen Ruhe und Schonung gezwungen. Und während dieser Zeit erkannte ich, dass Erholung mehr als Untätigkeit und ausreichend Schlaf bedeutete. Sie schöpfte aus der Stille und Einsamkeit, kreativer Arbeit und Auseinandersetzung mit geistigen Dingen, die einen herausfordern. Ich stöberte in alten Aufzeichnungen und setzte mich mit meiner Vergangenheit auseinander, nahm die Beschäftigung mit Themen auf, die mich während meines Studentenzeit faszinierten, belebte in Vergessenheit geratene Traditionen wieder und begann, hier und da, wieder über Dinge zu schreiben, die mich selbst betrafen.
All dies rief mir in Erinnerung, dass ein großes Glück in einem schlummert, ein Schatz, der nur darauf wartet, entdeckt und zutage gefördert zu werden und der, weil er von nichts und niemandem abhängt, einem jederzeit zu Gebote steht, sofern man sich seiner würdig erweist. Sich seiner würdig zu erweisen, heißt, diesem geistigen Leben aktiv nachzugehen, was Hingabe, Zeit und Geduld erfordert. Man geht eine Beziehung mit sich selbst ein, die, wie jede andere, steht und fällt, mit dem, was man für sie herzugeben bereit ist. Die Zeit, die man mit sich selbst verbringt, lässt sich nicht beschneiden oder aufschieben. Das Selbst merkt ebenso wie ein Partner, wenn es betrogen und vertröstet wird. Sich selbst zu begegnen, erfordert Muße und Mut.
Es muss so etwas wie eine höhere Weisheit des Körpers geben. Der eigene Leib übernimmt die Kontrolle, wenn man Gefahr läuft, sich aus den Augen zu verlieren und führt einen – nötigenfalls mit Gewalt – auf den rechten Pfad zurück. Und all dies geschieht, ohne dass wir uns der Ursachen, Vorgänge und Folgen bewusst sind.
Der Weg, den ich Sommer diesen eingeschlagen habe, wiegt den Schmerz und die monatelange Entsagung, die meine Verletzung verursachte, mehr als auf und ich würde diese Zeit niemals gegen einen anderen Verlauf der Dinge eintauschen wollen. Das meine ich, wenn ich sage, dass sich eine Katastrophe mitunter als Glücksfall erwiesen kann und empfinde große Dankbarkeit dafür. Es war nicht das erste Mal und wird mit Sicherheit nicht das letzte Mal sein.